Von drei Affen, Service-Gaps und Nischen oder Wann kommen Suchmaschinen endlich zu Sinnen?

Betrachtet man die Angebote moderner Suchmaschinen, so fällt auf, dass die letzte echte Innovation die Analyse von Verweisen war. Ich will damit nicht unbedingt alle Fortschritte seit der Einführung des Google Page Rank negieren, aber mir wäre kein anderes Beispiel bekannt, das in den letzten 10 Jahren die Qualität und Relevanz für den Endnutzer spürbarer verbessert hat. Die Google-Gründer waren damals in der Lage gewesen, den Wert des Page Rank als zusätzliches Signal zu erkennen und zu nutzen.

Im Verlauf der letzten Jahre hat ein Großteil der Industrie ihre Zeit damit verbracht, wie verrückt nach neuen Signalen zu suchen, die den nächsten evolutionären Schritt erlauben würden – vergeblich. Der bisherige Höhepunkt dieser Anstrengungen wurde damit erreicht, dass die Suchmaschinen den Webseitenbetreibern vorschlugen, von sich aus neue Signale zur Verfügung zu stellen – Hallo Microformats! Aber „was ist mit Social?“ wird jetzt der ein oder andere fragen. Ganz ehrlich, am Ende sind es auch wieder „nur“ Links. Unter dem Gesichtspunkt von Innovation kommen alle bisherigen Bemühungen der Suchmaschinen-Industrie einer Bankrotterklärung sehr nahe.

Diese Schlussfolgerung mag etwas deprimierend klingen, aber ich denke, wir haben gerade deswegen allen Grund gespannt zu sein, wann auf diesem Feld die nächste Weiterentwicklung stattfinden wird.

Besonders meine ehemaligen Kollegen bei Bing dürften darauf hoffen, dass der nächste Innovationsschub eher früher als später kommt. Derartige Umwälzungen haben historisch betrachtet stets optimale Bedingungen für den Markteinritt eines neuen Players geboten.

Wo aber sollen diese neuen Signale herkommen?

Jeder kennt die Darstellung der drei Affen, die sich Ohren, Mund und Augen zuhalten. Und in vielerlei Hinsicht symbolisiert genau dieses Bild, wo die Reise für Search hingehen muss und wird.

Drei Affen
By Anderson Mancini

Im übertragenen Sinn scheitern Suchmaschinen heute zumeist bei dem Versuch, einen Patienten, den sie nicht kennen, via SMS zu diagnostizieren. Dabei ignorieren sie Unmengen von bedeutsamen Signalen, die bei einem „regulären“ Arztbesuch für einen genauen Befund genutzt werden.

Ein Arzt erkennt in der Regel durch bloßen Augenschein sehr schnell, wie der Allgemeinzustand seines Patienten ist, und er erkennt auf der Stelle, ob Er oder Sie fünf oder fünfundfünfzig Jahre alt ist. Der Arzt hört, ob er einen Muttersprachler vor sich hat oder ob er/sie Schwierigkeiten hat, sich zu artikulieren. Weiterhin kann er hören, ob und wenn ja wie stark er/sie hustet. Ebenso erkennt er an Körperhaltung und Gesichtsausdruck, in welchem Zustand der Patient ist. Diese Liste ließe sich problemlos um viele weitere Punkte ergänzen und der Arztbesuch durch eine Vielzahl anderer Szenarien ersetzen.

Weitaus spannender wird es, wenn man sich den Teil der Kommunikation ansieht, der unterbewusst abläuft. Bei der Beobachtung von Menschen, die sich gegenseitig begrüßen, fällt beispielsweise Folgendes auf. Personen, die man in der sozialen Hierarchie höher ansiedelt als sich selbst, werden mit leicht nach unten geneigtem Kopf begrüßt. Tauscht man in identischer Situation den Counterpart gegen einen weiter unten in der Hierarchie angesiedelten Menschen aus, dann verändert sich dieses unterbewusste Signal und wir heben den Kopf leicht.

Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen.

Die bewusste und unbewusste Analyse dieser Daten ist von essentieller Bedeutung für eine erfolgreiche und effiziente menschliche Kommunikation. Leider werden alle diese Signale von Suchmaschinen bislang weitgehend ignoriert.

Betrachtet man den Mensch-Maschine-Dialog, wie er sich gegenwärtig für einen Suchmaschinenbenutzer darstellt, hat das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer typischen SMS-Unterhaltung. Der gesamte Austausch wird auf ein Minimum reduziert. Die Suchmaschinenbetreiber versuchen den Patienten anhand von wenigen Suchbegriffen zu diagnostizieren.

Das wird sich in den kommenden drei bis fünf Jahren dramatisch ändern. Höhere mobile Bandbreiten, leistungsfähigere mobile Endgeräte mit hochauflösenden Kameras und weiteren Sensoren werden Suchmaschinen in die Lage versetzen, weit mehr als ein paar Suchbegriffe als Basis für eine Bewertung zu analysieren.

Die ersten Vorboten dieser Entwicklung lassen sich schon heute betrachten. Google’s Voice Search kann am Ende sehr viel mehr sein, als nur eine bequemere Art, Suchanfragen abzusenden.

Apple’s Siri geht sogar einen Schritt weiter, indem es die Ausführung „komplexerer“ Aufgaben via Sprachinteraktion ermöglicht. Microsoft’s Kinect hat weitere Sensoren in die Mensch-Maschine-Interaktion eingeführt, die zum ersten Mal in dieser Skalierung Bewegung, Körperhaltung und Gestik analysierbar und nutzbar machen.

Wenngleich die verbaute Hardware von Kinect derzeit noch nicht präzise genug ist, um einzelne Finger und deren Bewegung erkennen und bewerten zu können, entwickelt sich der Markt in diesem Segment rasant, was sich beispielhaft an dem Leap Motion-Bewegungssensor zeigt.

Von Google’s Suchen via hochgeladenem Bild bis zur Echtzeitanalyse von Video-Input à la Google Glass ist es ein logischer nächster Schritt. Und es lässt sich eine weitere Vermutung anstellen. So wie Google’s 411-Service oder das kostenfreie Anrufen via Gmail die nötige Datenbasis für die Suche via Spracheingabe lieferte, könnte Google Hangout ähnliche Daten liefern, um Videos hinsichtlich menschlicher Kommunikation analysieren zu können. Derart umfangreiche Datenmengen sind unverzichtbar, um die Algorithmen zu trainieren und präziser zu machen.

Aber das ist für die Suchwelt wohl nur der Anfang dieser spannenden Reise.

Schöne neue Welt! Was aber bringt einem dieses Wissen heute?

Wenn wir uns bewusst machen, dass Suchmaschinen gegenwärtig quasi blind, taub und stumm sind, also nichts „wissen“, ergeben sich zwangsläufig Service-Gaps, potenzielle und bislang unerkannte Nischen sowie Optimierungsmöglichkeiten, die bedient werden wollen.

Kehren wir noch einmal zurück zu dem Beispiel des Patienten, der versucht, Heilung zu finden. Kann ich als Seitenbetreiber für den Fall, dass mein Patient ein Fünfjähriger ist, etwa sicherstellen, dass die Landing-Page eine Alternativversion mit mehr Bildern und vereinfachter Sprache anbietet?

Ein Webseitenbetreiber sollte seine Inhalte möglichst in mehreren Sprachen veröffentlichen oder zumindest eine Maschinen-Übersetzung verlinken, denn Suchmaschinen erkennen derzeit nicht, ob der Suchende die Sprache auf der Webseite versteht.

Weitere Aspekte, die Suchmaschinen im Gegensatz zu Menschen nicht erkennen können, sind Emotionen und Stimmungen. Euphorisiert nach dem Champions League-Sieg erscheint der Online-Preis von 35 Euro für einen Schaal meines Teams viel vertretbarer, als wenn ich das Ding beim Wocheneinkauf zum selben Preis in einem Supermarkt finde.

Für diejenigen, die bezweifeln, dass hinter diesen Annahmen signifikante Zielgruppen stehen, habe ich ein anschauliches Beispiel. Eines der aus meiner Sicht wirklich netten Features von Gmail ist die zusätzliche Hürde, die aktiviert wird, wenn man an Wochenenden spät abends Nachrichten verschicken will. Damit will Google Menschen helfen, sich vor Peinlichkeiten zu bewahren – wenn sie beispielsweise versuchen sollten, in eventuell nicht mehr ganz nüchternem Zustand ihrem Chef mal ganz offen die Meinung zu sagen, was für ein toller Mensch er doch ist.

Ich persönlich würde mir dieses Feature von meinem Domain-Registrar wünschen. Wenn ich nach dem zweiten Glas Rotwein einmal mehr die beste Idee aller Zeiten habe, und – ganz wichtig – zu allererst die Domains für diese genialen Einfälle sichere. Diese fristen dann in der Regel ein jahrelanges Dasein ohne Inhalt, weil die Idee in nüchternem Zustand betrachtet doch nicht so überragend war.

Aus Sicht des Domain-Anbieters wäre eine solche zusätzliche Hürde allerdings kontraproduktiv und nicht gewinnbringend. Sie wird somit wohl nur ein Wunsch bleiben.

Die Features und Angebote müssen natürlich zum jeweiligen Thema passen. Und wie bei allen Neueinführungen heißt es auch hier: testen, anpassen, testen, anpassen und wieder testen.

Mit meinem Beitrag konnte ich hoffentlich ansatzweise aufzeigen, warum die menschlichen Sinne mich zuweilen inspirieren, wann immer ich denke, dass mir die Ideen ausgehen, was man noch besser machen könnte.

Sinne, die bereits von Aristoteles beschrieben wurden.

Sehen, die visuelle Wahrnehmung mit den Augen
Hören, die auditive Wahrnehmung mit den Ohren
Riechen, die olfaktorische Wahrnehmung mit der Nase
Schmecken, die gustatorische Wahrnehmung mit der Zunge
Tasten, die taktile Wahrnehmung mit der Haut

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Sinn_(Wahrnehmung)

In solchen Momenten frage ich mich, was kann die Suchmaschine, was kann meine Seitenstatistik nicht sehen? Und was davon könnte von Bedeutung für meine Nutzer sein?

Ganz unabhängig wie sich die kommenden Jahre im Detail entwickeln werden, freue ich mich jedenfalls wie ein kleines Kind darauf, zu erleben, wohin die Reise geht.

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